Geologie Stuttgart 21 S21

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Die Gefährdung des Stuttgarter Mineralwassersystems durch Stuttgart 21

Eine zusammenfassende Bewertung von Dr. Dipl. Geol. Ralf Laternser

Erschienen am 15.12..2011

Bedeutung des Stuttgarter Mineralwasservorkommens

Die Stuttgarter Mineralwasserquellen haben insgesamt eine Schüttung von circa 500 Litern pro Sekunde. Damit ist das Stuttgarter Mineralwasservorkommen das zweitgrößte in Europa und das reichhaltigste in Deutschland. 12 der 19 Quellen genießen den Heilwasserstatus.

Das Stuttgarter Mineralwassersystem steht unter besonderem öffentlichem und gesetzlichem Schutz. So ist in den „Richtlinien für Heilquellenschutzgebiete“ der Landesarbeitsgemeinschaft Wasser des Bundes (LAWA) festgehalten:

"Staatlich anerkannte Heilquellen sind im Interesse des Wohls der Allgemeinheit vor Beeinträchtigungen durch Festsetzung eines Heilquellenschutzgebietes zu schützen. Dem Schutz kommt zur Abwehr konkurrierender Nutzungsansprüche im Gefährdungsgebiet besondere Bedeutung zu."

Auch das Regierungspräsidium Baden-Württemberg rechtfertigt die Ausweisung eines Heilquellenschutzgebietes. Es begründet dies folgendermaßen:

"Die Einmaligkeit und die Unersetzlichkeit der Heilquellen sowie die überregionale Bedeutung des Mineralwasser-Quellsystems von Stuttgart-Bad Cannstatt und Stuttgart-Berg machen es erforderlich, sicherzustellen, dass die Heilquellen zur Wahrung ihrer Schüttung, ihrer Mineralisation und ihres Gehaltes an freiem CO2 nicht quantitativ beeinflusst und nicht durch den Eintrag von Schadstoffen in den Grundwasserzustrom verunreinigt werden. Hierfür wurde das Heilquellenschutzgebiet am 11. Juni 2002 festgesetzt"

"Schutzgebiet für die staatlich anerkannten Heilquellen in Stuttgart-Bad Cannstatt und Stuttgart-Berg" - Regierungspräsidium Baden-Württemberg

Eisenbahnbundesamt genehmigt Weiterbau des Grundwassermanagements

Gefährdung des Stuttgarter Mineralwassers durch Stuttgart 21

Für den Bau von Stuttgart 21 müsste im ganzen Stadtgebiet großflächig, tiefgründig und für extrem lange Zeit in den Untergrund eingegriffen werden. Ein Großteil der für Stuttgart 21 beanspruchten Flächen ist jedoch per Verordnung Heilquellenschutzgebiet und deshalb vor problematischen oder schädlichen Eingriffen, die das Grundwasser gefährden könnten, grundsätzlich zu schützen.

Die geplanten Baumaßnahmen für Stuttgart 21 stellen aber in ihrem Ausmaß und ihrer Dauer einen nie dagewesenen Eingriff mit schwer prognostizierbaren Folgen dar. Zwar wird von Befürworterseite stets auf die technische Beherrschbarkeit hingewiesen, doch bei genauer Betrachtung ist das Projekt aufgrund sehr uneinheitlicher Untergrundverhältnisse nichts anderes als ein riesiger Pilotversuch auf Kosten eines unwiederbringlichen Naturschatzes und des Rechtes der Allgemeinheit auf sauberes Wasser.

Denn für die geplanten Tiefeneingriffe wurden 25 langfristige Ausnahmegenehmigungen von der Heilquellenschutzverordnung erteilt – und zwar durch die Untere Wasserbehörde. Pikant daran ist: Diese Behörde untersteht der Stadt Stuttgart, die einer der maßgeblichen Projektbefürworter ist. Bei Ausnahmengenehmigungen in diesem Umfang kann man im Grunde schon von einer faktischen Aufhebung des Heilquellenschutzes sprechen.

Es gibt schon seit 20 Jahren zwischen verschiedenen Geologen und Behörden gravierende Meinungsverschiedenheiten in der Forschung zum Stuttgarter Mineralwassersystem. So sieht das Landesamt für Geologie und Rohstoffe (LGRB), welches immerhin die übergeordnete Fachbehörde auf Landesebene ist, einen sehr starken, hochmineralisierten Wasserzufluss aus Südosten durch Bohrungen inzwischen als erwiesen an. Es wird angenommen, dass rund die Hälfte des Stuttgarter Mineralwassers aus dieser Richtung in den Talkessel fließt. Dabei handelt es sich um die mineralreichen und wärmebringenden Komponenten des Heilwassers. Die Untere Wasserbehörde der Stadt Stuttgart ignoriert offiziell diese Erkenntnisse bisher gänzlich.

Im Zuge des Baus von Stuttgart 21 ist auch eine sich überkreuzende Untertunnelung des Neckars im Bereich des südöstlichen Mineralwasserzustroms geplant. Mit dem Modellverständnis des LGRB ist dieser Tiefeneingriff erheblich kritischer zu beurteilen als mit dem Modellverständnis der Unteren Wasserbehörde der Stadt Stuttgart. Nach Ansicht des LGRB könnte sich bei einer Schädigung des südlichen Zustroms nämlich die Mineralzusammensetzung des Wassers dauerhaft ändern.

Auch die immer wieder hervorgehobene abdichtende Wirkung der Schichten, die das Mineralwasser überlagern, ist geologisch eindeutig nicht überall gegeben . So sind Aufbrüche von Mineralwasser natürlicher Art früher und heute (Schützenplatz) bereits nachgewiesen und bei früheren Baumaßnahmen (U-Bahn-Bau) kam es bereits zu Mineralwasseraufbrüchen, wie das ehemalige geologische Landesamt als mittlere Wasserbehörde bestätigt. Die bereits heute stattfindende Durchmischung von Grund – und Mineralwasser im Bereich des geplanten Tiefbahnhoftroges ist ebenfalls bekannt, nicht zuletzt an messbaren Verschmutzungen durch Schadstoffe. Bei dem geplanten tief reichenden Entfernung der Erdschichten, die das Mineralwasser schützen, besteht deshalb immer die Gefahr eines unkontrollierten Aufbruchs des Mineralwassers. Denn das Stuttgarter Mineralwasser steht unter hohem natürlichen Druck. Auch wenn die Mineralwasserschichten in vermeintlich großer Tiefe sind, könnte das Wasser in Baugruben bis 21 Meter Tiefe „von alleine“ bis oder bis fast an die Erdoberfläche aufsteigen oder im Bereich der geplanten Neckarunterquerung  in Stuttgart-Wangen unkontrolliert in den Neckar austreten

Die Baugrube für einen riesigen Abwasserkanal („Nesenbachdüker“) unter dem geplanten Tiefbahnhof im Schlosspark soll zum Beispiel 17 Meter tiefer als der Mineralwasserdruckspiegel liegen. Das bedeutet die Baugrube könnte 17 m hoch mit Mineralwasser vollaufen. Beim Bau dieses Abwasserkanals, der Teil der Planung von S21 ist wird eindeutig tiefer als beim Bau der S-Bahn, in eine unvergleichlich problematischere geologische Zone mit Dolinen und Verwerfungenim allgemein schon schwierigen  Stuttgarter Untergrund eingriffen. Dieser Nesenbach - Abwasserkanal soll nach einem geologischen Gutachten aus dem Planfeststellungsabschnitt (PFA) 1.1 die wichtigen Mineralwasserschutzschichten („Dichtschichten“) bis auf einen verbleibenden Meter durchdringen.

Auch die geplante langjährige, künstliche Wiedereinleitung von dem zuvor in den Baugruben abgepumpten Wasser in gipshaltigen, rutschgefährdeten und hohlraumreichen Untergrund stellt ein großes Risiko für die betroffenen Anwohner im Hangbereich des Ameisenberges dar. Unter den genannten geologischen Verhältnissen kann eine künstliche Einleitung von Grundwasser in einem solchen, dicht besiedelten Bereich in ihrer Wirkung nicht vernünftig vorhergesagt werden.

"Wohnungen über dem Tunnel will keiner" - Stuttgarter Nachrichten

Grundwassermanagement zur Stabilisierung des Mineralwassersystems

Zur Verhinderung des Aufbrechens und der Verschmutzung des Mineralwassers sind während der gesamten Tiefbauarbeiten umfangreiche technische Maßnahmen zwingend vorgesehen - das sogenannte Grundwassermanagement (GWM). Erst diese Maßnahmen machen laut dem Eisenbahnbundesamt (EBA) Stuttgart 21 genehmigungsfähig und sie zeigen gleichzeitig deutlich die tatsächliche Gefahr für das Mineralwassersystem.

Der hohe planerische, technische und finanzielle Aufwand für das GWM ist in direktem Zusammenhang mit der tatsächlichen Gefährdung des Grundwassers zu sehen.

Letztlich ist das GWM der ständige und notwendige Versuch, ein Großbauvorhaben trotz extrem ungünstiger geologischer Verhältnisse zu verwirklichen, dessen Auswirkungen auf das Heilquellensystem unkalkulierbarer sind, als die Behörden und das EBA zugeben möchten, und welches deshalb ein Konzept permanenter Überwachung erfordert. Nach einer Überschreitung bestimmter Warn- und Einstellwerte könnte es nach den Planfeststellungsunterlagen letztlich zu Mineralwasseraufbrüchen und der Einstellung der Bautätigkeit in den Teilbaugruben kommen. In den möglichen Baustillstandszeiten bei wasserwirtschaftlichen „Notfällen“ stecken in der Kostenkalkulation enorme und bisher unberücksichtigte Risiken. Die Stadt Stuttgart hat im Vorfeld der geplanten Eingriffe die Kosten für wasserwirtschftliche Risiken bis 40 Millionen € bereits übernommen.

Ein Beispiel für die risikoreiche und Heilquellen gefährdende Planung von Stuttgart 21 ist die geplante künstliche Trinkwassereinleitung in Notsituationen in das Mineralwassersystem. Man erhofft sich hierdurch den künstlichen Aufbau eines Gegendrucks gegen das (wohl doch) mögliche unkontrollierte Aufsteigen des Mineralwassers im Rahmen des GWM. Aus Sicht des damaligen Landesamtes für Geologie Baden-Württemberg stellt die Einleitung von Trinkwasser eine den Heilquellenstatus gefährdende Veränderung der Natürlichkeit des Mineralwassers dar!

Zur Kontrolle des Grundwassersystems soll die (nur per Sondergenehmigung mögliche) Einleitung von Trinkwasser in den Untergrund durch eine aktuelle Planänderung zu PFA 1.2 nun sogar vervierfacht werden. Dies sagt nochmals alles über den wasserwirtschaftlichen Wert und die Sicherheit der bisher gültigen Planfeststellung 2005 aus, die als Grundlage der Genehmigung gilt.

Nachtrag Januar 2012: Mittlerweile wurde diese Planänderung zurückgezogen, da sich die Werte erneut als unrealistisch (falsch!) erwiesen haben.

Computersimulierte Grundwassermodelle zur geplanten technischen Kontrolle des Grundwassersystems

Die angebliche Sicherheit des Mineralwassersystems und die Planung des GWM beruhen auf Computersimulationen der unterirdischen Grundwasserströme. Die als absolut zuverlässig dargestellten Computerberechnungen der Grundwasserströme, die noch heute als Basis der Baugenehmigung von 2005 gelten und auf Daten einer Vielzahl von langjährigen Bohrprogrammen und Untersuchungen beruhen, erwiesen sich in der Folge um 125 Prozent fehlerhaft. Wissenschaftlich akzeptabel wären gerade noch 10 Prozent Abweichung. Somit ist aus fachlicher Sicht diese Genehmigung hinfällig.

Bei der aktuellen Planänderung schätzen genau dieselben städtischen Behörden ein neues Computermodell des Grundwassersystems nach vergleichbar wenigen Bohrungen und Untersuchungen wieder als absolut sicher ein! Eine ergebnisoffene, kritische Kontroverse mit unabhängigem, projektfernem Fachverstand hat nicht stattgefunden.

Nachtrag Januar 2012: Mittlerweile wurde diese Planänderung zurückgezogen, da sich die Werte erneut als unrealistisch (falsch!) erwiesen haben.

Unabhängige Geologen und Naturwissenschaftler (unter anderem der Autor) sind nach der Durchsicht der Akten zu den Basisdaten der Grundwassermodelle, die den Heilquellenschutz absichern sollen, von Folgendem überzeugt:

1) Mit den verwendeten Computermodellen zur Grundwassermodellierung ist es ohne weiteres möglich, gewünschte Ergebnisse zu erzielen, da entscheidende Gesteinseigenschaften um den Faktor 100 nach Belieben variiert werden können. Diese Gesteinseigenschaften sind, entsprechend der wechselhaften Verhältnisse im Bereich der geplanten Baugruben, sehr uneinheitlich ausgebildet. Die alten genehmigten Werte (Planfeststellung 2005) zur Grundwasserentnahme für den Tiefbahnhoftrog lagen durch falsche Ausgangswerte bei der Computermodellierung bei einer Fehlerquote von 125 Prozent! 

Der Untergrund von Stuttgart 21 ist also mehr als doppelt so durchlässig wie es die Modelle, die durch die Experten in den vergangenen 12 Jahren erarbeitet wurden, darstellen. Nochmals: Diese Grundwassermodelle galten offiziell als Beweis für die Sicherheit des Mineralwassers und waren damit „die“ Grundlage der Genehmigung.

2) Ungeklärte Messwerte beim Test des neuen Computermodells konnten von allen Fachleuten der Behörden nicht beantwortet werden. Es ist deshalb sehr fraglich, ob alle Auswirkungen vorhersehbar und beherrschbar sein werden.


 

Schlussfolgerung

Das gesamte Bauprojekt Stuttgart 21 ist für die Stuttgarter Heil– und Mineralquellen ein Eingriff, der weit oberhalb einer Schwelle des Restrisikos liegt.

Nach wissenschaftlich-technischem Stand und den bisherigen planerischen Mängeln kann das Eintreten einer nachhaltigen Schädigung nicht sicher ausgeschlossen werden.

Entsprechende Erfahrungen über ein so großes Gebiet und über eine so lange Dauer liegen nicht vor – und können durch den unabschätzbaren, wechselhaften und komplizierten geologischen Untergrund nur annähernd ermittelt und modelliert werden.

Das öffentliche Interesse an dauerhaft reinem und heilsamem Wasser in seiner natürlichen Zusammensetzung ist allgemein anerkannt und gesetzlich geschützt. Hier ist dringend eine kritische Abwägung gegenüber einem rein privatwirtschaftlichen Projekt der DB AG ohne nachgewiesenen verkehrlichen Nutzen anzustellen. Denn Stuttgart 21 fehlt bei genauer Betrachtung das öffentliche Interesse, da es weniger leistet als der heutige Hauptbahnhof. Stuttgart 21 ist nicht im Bedarfsplan für Eisenbahnwege in Deutschland und kann nach aktuellen Gutachten weniger Züge in der Spitzenstunde abwickeln als der heutige Kopfbahnhof.

 

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Dr. Ralf Laternser - Diplom-Geologe - Stuttgart